Marie-Louise Dräger wirkt nachdenklich. „Eigentlich kommt die EM ein bisschen zu früh“, sagt die Ruder-Weltmeisterin. Gern hätte die 39 Jahre alte Rostockerin noch etwas mehr Zeit zur Vorbereitung gehabt. Im Training mit ihrer Partnerin Ronja Fini Sturm (Brandenburg) lief es noch nicht rund. Andererseits müsse Klarheit herrschen, ob das Duo auf internationaler Ebene konkurrenzfähig ist.

Also heißt es, Augen zu und durch. Am Wochenende finden die Europameisterschaften im polnischen Posen statt. Für die Ruderer ist es der einzige internationale Wettbewerb des Jahres.

Sämtliche Weltcup-Rennen fielen aufgrund von Corona ins Wasser. Die Olympischen Spiele in Tokio, die für Dräger krönender Abschluss ihrer eindrucksvollen Karriere werden sollen, wurden auf 2021 verlegt. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Uns wurde ein Jahr geschenkt, um daran zu arbeiten, unsere Ziele zu erreichen“, sagt die für die Schweriner RG startende Marie-Louise Dräger.

Dass sie und Fini Sturm schnell sein können, haben sie schon mehrfach unter Beweis gestellt. Bei den Europameisterschaften 2015 und 2016 gewann das vom Lübecker Björn Lötsch betreute Duo jeweils Silber.

Nach fünf Goldmedaillen und dem Sieg in der Nationenwertung bei der vergangenen EM in Luzern will das 63-köpfige deutsche Team auch in diesem Jahr ganz vorne mitrudern. Ob auch Dräger und Sturm in den Medaillenkampf eingreifen können, ist ungewiss.

Dabei begann das Jahr für die beiden hoffnungsvoll. Ende Februar setzten sie sich im Trainingslager in Montemor-o-Velho (Portugal) gegen ihre nationalen Konkurrentinnen durch. Doch die Corona-Pandemie zwang zur vorzeitigen Abreise. „Wir sind Hals über Kopf aus Portugal abgereist“, erinnert sich die Hansestädterin.

Ihr Boot blieb am Flughafen in Berlin. Grund waren die Einreisebeschränkungen für Mecklenburg-Vorpommern. Erst vier Wochen später durfte Dräger ihr Boot wieder in Empfang nehmen. Zu diesem Zeitpunkt war das Training auf der Warnow ohnehin nicht erlaubt.

Dräger machte das Beste aus der schwierigen Situation. Die viermalige Weltmeisterin war zum Improvisieren gezwungen. „Ein Ruder-Ergometer hatte ich schon. Ich habe mir vom Olympiastützpunkt Geräte geholt, darunter ein Watt-Bike, und bin Rennrad gefahren“, berichtet die Polizistin.

Angenehmer Nebeneffekt: Durch das Training in den eigenen vier Wänden konnte die alleinerziehende Mutter viel Zeit mit ihrem siebenjährigen Sohn verbringen. „Ich habe die Zeit genossen – und er auch“, sagt Marie-Louise Dräger. Eines Tages habe ihr Filius zu ihr gesagt: Corona ist Mist, weil du jetzt noch ein Jahr länger Sport machen musst. Aber es ist auch gut, weil wir jetzt ganz viel Zeit füreinander haben, erzählt die Hansestädterin, die in den intensiven Wochen und Monaten viel Kraft tanken konnte.

Ihre Partnerin Ronja Fini Sturm hatte hingegen Probleme, mit der coronabedingten Absage sämt­licher Wettbewerbe klar zu kommen. Wie viele andere Sportler fragte sich die 25-Jährige: Warum tue ich mir das an? Dräger hat die Antwort parat: „Man hat ja trotzdem dieses Ziel vor Augen.“

Sturms Motivationstief ist überwunden. Im Training waren Fortschritte unverkennbar. Jetzt blasen die beiden in Posen zum Angriff. Dräger gibt sich kämpferisch: „Aufgeben ist keine Lösung.“

v.li.: Ronja Fini Sturm, Björn Lötsch, Marie Louise Dräger © Lötsch