Schwerin Wenn Michael Timm über seine Sportart spricht, gerät er regelrecht ins Schwärmen. „Boxen ist kein Prügeln, es ist ein Fechten mit den Fäusten und so vielseitig wie wohl kein anderer Sport“, sagt der Cheftrainer des Box-Bundesstützpunktes Schwerin: „Du musst flink sein auf den Beinen, schnell mit den Fäusten und schnell im Kopf. Du versuchst immer, deinem Gegner eins auszuwischen und seinen Plan schon im Ansatz zu vereiteln. Besser zu sein als der andere, das ist im Ring immer wieder eine faszinierende Herausforderung.“

Diese Herausforderung hat der 57-Jährige einst bis zur Perfektion gemeistert. Er war Europameister, Weltcup-Dritter und gewann hochkarätige internationale Turniere. 

Dass der Junge aus Fliegenhof bei Zarrentin beim Boxen landen würde, schien irgendwie vorgezeichnet. Auch wenn er zunächst mit Ringen begann und als Hagenower Kreismeister Kreisrekord seiner Altersklasse über 100 Meter Freistil schwamm.  „Aber ich wollte immer boxen“, erinnert er sich. „Als mein Vater früher für die legendären Profikämpfe nachts aufstand, bin ich immer mit aufgestanden.“ Der Steppke sah Ali und Frazier, Foreman und Norton… Und er wusste: „Das will ich auch!“

Das nötige Feuer im Hintern hatte die Nummer sieben der acht Timm-Geschwister – aufgeteilt in vier Jungs, vier Mädchen. „Ich war ein Wildfang und hatte als Kind eine lockere Faust“, gesteht er. Auch an seinen ersten K.o. erinnert er sich, einen unfreiwilligen. „Ich war gerade erst in der ersten Klasse. Als mich auf dem Schulhof von hinten irgendjemand am Ohr zog, fuhr ich gleich im Umdrehen die Faust aus. Meine Klassenlehrerin ging prompt zu Boden.“

Mit dem Geständnis seines Attentats hatte Michael Timm bis jetzt hinter dem Berg gehalten. Und das Verhältnis zur Lehrerin war danach – sagen wir mal: nicht frei von unterschiedlichen Auffassungen zu ausgewählten Themenkomplexen. „Michael ist grob und rüpelhaft, stört fortwährend den Unterricht. So ist eine schulische Leistungsentwicklung nicht möglich“, musste sich der heutige Cheftrainer in einer seiner Beurteilungen attestieren lassen. „Tja, wer hätte damals gedacht, dass ich später selbst Pädagoge werden würde“, sagt er. Er sagt es schmunzelnd, denn jetzt, nach gut einem halben Jahrhundert, sollte die Sache mit dem K.o. wohl verjährt sein. 

Außerdem wurde er sozusagen auch zum Prototypen der Aktion „Boxen statt Gewalt“, die sein einstiger Trainings-, Europameister- und heutiger Trainerkollege Dieter Berg Jahrzehnte später aus der Taufe hob und bis heute in und um Schwerin sehr erfolgreich am Laufen hält. Auch Timm selbst ist mit der Aktion immer mal an seiner alten Zarrentiner Schule präsent. „Mich hat das Boxen miterzogen“, ist er sich sicher. Seine letzte Schulhofrauferei hatte er als Sechstklässler, seine Fäuste gebrauchte er nur noch im Ring.

Für seine Faustkampf-Karriere musste er sich allerdings schon früh auch außerhalb des Rings ins Zeug legen. Sieben Vieren auf dem Zeugnis der 5. Klasse trugen ihm ein halbes Jahr Trainingsverbot ein. „Ich habe gelitten wie ein Hund, dass ich nicht trainieren durfte“, gesteht Timm. Aber er hat sich auch zusammengerissen. „Und auf dem nächsten Zeugnis waren alle Vieren weg.“

Zum Glück. Denn er war gut. Unter Übungsleiter Jürgen Gussner nach einer Niederlage im allerersten Kampf bald so gut, dass ihn der SC Traktor nach Schwerin holen wollte. Michael wollte auch – einerseits. „Ich wollte aber auch nicht weg vom Rockzipfel meiner Mutter.“ Erst ein Deal mit seinem Vater, der ihn in Sachen Sport immer bestärkte, ließ ihn den Schritt   wagen. „Er musste mir versprechen, dass er meine Arbeiten übernimmt – Hühnerstall ausmisten und Holz reinbringen – damit das nicht an meiner Mama hängenbliebe.“

Noch lange hatte der junge Boxer mit Heimweh zu kämpfen, auch wenn es ihm in der Trainingsgruppe von Wolfgang Labahn gut gefiel. „Ich habe immer geheult, wenn ich wieder nach Schwerin musste“, erinnert sich Timm. Was er nicht wusste: Seine Mutter auch, aber erst, als er weg war, wie sie ihm später verriet. „Hätte ich das mitbekommen, hätte ich in Schwerin meine Zelte abgebrochen und wäre nach Hause zurückgekehrt.“

Doch mit der Zeit und den Erfolgen verflog das Heimweh. Zwei Titel sind ihm besonders ans Herz gewachsen. Da ist zum einen der Spartakiadesieg von 1977, sein erster von zweien. „Spartakiadesieger – also der Beste der DDR – ich! Das war für mich unfassbar“, gibt Timm einen Einblick in die aufgewühlte Gefühlswelt des damals 14-Jährigen.

Und dann ist da natürlich der Europameistertitel von 1985 in der 71-Kilo-Klasse, sein größter sportlicher Erfolg überhaupt. In Budapest sei er in seinen vier EM-Kämpfen „stabil durchmarschiert. Einfach, weil wir damals immer topfit waren“, sagt Michael Timm. Nicht einmal ein Nasenbeinbruch, den er sich zuvor in Zinnowitz noch im allerletzten Sparring mit dem Kubaner Jose Luis Hernandez eingehandelt hatte, konnte ihn vom Titelkurs abbringen. „Auch wenn die Nase schon höllisch wehtat, wenn jemand mit der Hand bloß in die Nähe kam“ erinnert sich der gelernte Kfz-Mechaniker. 

Dass er nach einigen Verletzungen (Timm: „Die Jahre im Leistungssport waren sehr hart und haben ihren Tribut gefordert“) schon ein Jahr später als Assistent seines Trainers Fritz Sdunek beim SC Traktor ins Trainerfach wechseln würde, ahnte da noch keiner. „Ich habe mich richtig reingekniet, machte den Trainerschein und ging zum Ingenieurpädagogik-Studium.“

Beinahe umsonst – Stichwort: Wendeknick. Denn obwohl Timm als Coach der DDR-Junioren die Schweriner Enrico Berger und Torsten Bengtson sogar zu Weltmeisterehren führte, entging auch er der Trainer-Entlassungswelle von 1990 nicht. „Da war der Schreck schon groß. Denn so was kannten wir doch bis dahin gar nicht. Und keiner wusste, wie es weitergehen würde“, gesteht der Familienvater, dessen Töchter Julia (Jahrgang 1983) und Isabell (1986) damals noch klein waren, seine Ängste von damals. Trotz Arbeitslosigkeit arbeitete er als Trainer weiter. „Auf Honorarbasis, wovon das Finanzamt später einen großen Teil zurückforderte.“

So richtig leben von seinem Traumberuf konnte er erst bei den Profis. Drei Jahre als MV-Landestrainer mit ebenso bescheidener wie abenteuerlicher Mischfinanzierung und zwei Jahre in einer Schornsteinsanierungsfirma (Timm: „Schwere Arbeit, aber gutes Geld.“) lagen hinter ihm, als ihn 1997 erneut Fritz Sdunek holte. Diesmal zum Hamburger Universum-Stall, der auch die Klitschkos herausbrachte. Als Assistent geholt und nach Sduneks Ausscheiden ab 2009 als Cheftrainer agierend, machte Timm Weltmeister fast wie am Fließband, unter ihnen Jürgen Brähmer, Felix Sturm, Ina Menzer, Ruslan Chagaev… Er war in 15 Universum-Jahren aber auch grob gerechnet 10000 Stunden oder 500000 Kilometer auf der Autobahn zwischen Schwerin und Hamburg unterwegs.

„Ich wollte ehrlich gesagt etwas ruhigertreten. Ich brauche die ganze Reiserei nicht mehr, möchte am liebsten gar nicht mehr runter von meinem Hof“, nennt Michael Timm einen wesentlichen Grund, warum er 2012 – parallel mit dem Universum-Aus – als Cheftrainer zum Schweriner Bundesstützpunkt der Amateure wechselte. Und? Hat sich diese Hoffnung erfüllt? „Im Gegenteil, ich bin noch viel mehr unterwegs als vorher“, sagt Timm abwinkend.

Zum Glück hat er eine sehr verständnisvolle Frau an seiner Seite – seit fast 40 Jahren. „Konni hat mir immer den Rücken freigehalten und mich unterstützt. Schon als ich noch selber boxte. Ohne sie wäre das alles gar nicht gegangen“, zollt der frischgebackene Opa von Enkelin Maya seiner besseren Hälfte Konstanze einen ganz lieben Dank.

Und dass er im Boxen noch etwas bewegen will, das steht für Schwerins Cheftrainer fest. 2016 hat er mit Bronze von Rio für Artem Harutyunyan federführend am Gewinn der ersten Olympiamedaille für das deutsche Boxen nach 2004 mitgewirkt. „Und ich möchte gern noch einmal Athleten zu Olympia führen“, hat er sich vorgenommen. Mit Ex-Weltmeisterin Ornella Wahner und Mittelgewichtler Kevin Boakye Schumann sieht er in der Hinsicht gute Chancen. „So etwas schaffst du jedoch als Trainer nie allein. Aber wir sind hier zu einem sehr guten Team rund um unsere Aktiven zusammengewachsen – Trainer, Geschäftsführung, unsere vielen Ehrenamtlichen… Das stimmt mich sehr zuversichtlich für die Zukunft des Schweriner Boxens.“