Rostock. Schwungvoll nähert sich die blaue Simson auf dem Feldweg und bremst dann abrupt ab. Auf der kleinen Maschine vom Typ S 51 sitzt Reno Tiede. Das Unglaubliche: Der 30- Jährige sieht fast nichts. Er hat nur noch ein Prozent Sehkraft. Dass er trotzdem auf dem Acker Moped fahren kann, ist für den sympathischen Rostocker ein riesiges Geschenk: „Für mich bedeutet das ein Stück Freiheit“, sagt er und lächelt. Dabei hatte der aktive Leistungssportler dieses Jahr eigentlich andere Pläne.

Mit seinen Goalball-Kollegen Michael Dennis und Felix Rogge hatte er sich für die Paralympics 2020 qualifiziert, die vom 24. August bis zum 5. September in Tokio stattgefunden hätten. Weil diese coronabedingt ausfielen, nutzte Tiede die Zeit und kaufte sich seine Maschine.

„Niemals aufgeben“, prangt in verschnörkelter Schrift unter dem Vereinslogo auf dem dunkelblauen Pullover. Dieser Spruch bezieht sich bei Reno Tiede nicht nur auf den Sport im Rostocker Goalball Club (RGC), sondern vor allem auf sein Leben, das der 30-Jährige auf beeindruckende Weise meistert. 
Denn der Rostocker hat einen angeborenen Gendefekt, von dem nicht einmal seine Eltern wissen, bis die Krankheit im Kindesalter plötzlich ausbricht. „Bis ich acht Jahre alt war, konnte ich normal sehen.“ Dann habe er nach und nach bemerkt, dass etwas nicht stimmt. „Aus der letzten Reihe der Schulbank musste ich immer weiter nach vorne, um das Tafelbild zu sehen. Irgendwann konnte ich in meinen Büchern nur noch die Überschriften lesen“, erinnert er sich. Die Ärzte stellen zuerst nichts fest. „Sie dachten, die Krankheit ist psychosomatisch, weil ich nicht zur Schule gehen will“, erinnert sich Tiede. Als sich die Augen weiter verschlechtern, bekommt er eine Brille. Auch die hilft ihm nicht. „Als ich elf war, hatte ich nur noch 15 Prozent Sehkraft.“ 
Seine Diagnose: Morbus Stargardt. „Der schärfste Sehnerv ist ausgefallen und die auf der Netzhaut liegenden Stäbchen und Zapfen zum größten Teil auch. Die, die noch funktionieren, liegen an so unterschiedlichen Stellen, dass ich nur Ausschnitte sehe, die mein Gehirn zu einem Gesamtbild zusammensetzt“, erklärt Tiede. „Alles, was direkt vor mir passiert, ist wie ein riesiges Loch.“ 2000 kommt der damalige Viertklässler auf die Blindenschule nach Neukloster. „Weil meine Eltern nicht wollten, dass ich ins Internat komme, ist meine Mutter mit mir nach Sievershagen gezogen“, sagt er. 2004 zerbricht die Ehe seiner Eltern, sein Vater verliert eine Niere – für den damals 14-Jährigen ein weiterer Schicksalsschlag. Auch seine Fußballkarriere muss der Hansa-Rostock-Fan aufgeben. 
Dafür lernt er in Neukloster Goalball kennen – eine Ballsportart für Menschen mit Sehbehinderung, bei der es darum geht, einen Klingelball in das gegnerische Tor zu werfen. Bei seinem ersten Turnier spielt er gegen Mannschaften aus Prag und Barcelona. „Das hat mich als 14-Jähriger so gefesselt, dass ich dabei geblieben bin.“ 2005 kommt er in die Jugendnationalmannschaft. Tiede ist ehrgeizig. „Schon damals wusste ich, dass ich als Sehbehinderter doppelt so viel machen muss, wie die anderen, wenn ich etwas im Leben erreichen will.“ 
Mit 17 macht er seinen Realschulabschluss und wird 2007 mit der Goalball-Nationalmannschaft Jugend-Weltmeister. „Damals dachte ich, jetzt gehört die Welt mir, aber in MV gab es keine Strukturen für diesen Sport.“ Tiede wechselt nach Hessen, wo er den Sport auf  Leistungsebene betreiben kann, macht sein Fachabitur für Sozialwesen und fängt danach an, BWL zu studieren. „Die anderen sind Feiern gegangen, ich war trainieren.“ Es lohnt sich: Neben zahlreichen sportlichen Erfolgen und Verdiensten – unter anderem macht er Goalball in Deutschland zum Bundesliga-Sport – qualifiziert er sich überraschend für die Paralympics 2016 in Rio. „Da war’s mit dem Studium leider wieder vorbei“, sagt Tiede und lacht. 
Auch seine heutige Lebensgefährtin, die Heidelbergerin Charlotte Kaercher, die in der Goalball-Frauen-Nationalmannschaft spielt, lernt er beim Sport kennen: „Ich habe ihr versehentlich einen Ball ins Gesicht geworfen.“ Heute krönt der Sohn Kilian (2) das Glück des Paares. Von Marburg zieht es Tiede zurück in den Norden: „Ich liebe Mecklenburg – die Menschen, die Möwen und den Hafen. Außerdem bin ich Hansa-Mitglied auf Lebenszeit.“ 2014 gründet er den Rostocker Goalball Club (RGC) und zieht 2015 zurück in die Hansestadt, wo er seine Erfolgsgeschichte weiterschreibt: 2018 erreicht er den zweiten Platz bei der Weltmeisterschaft, 2019 wird er Europameister. Vor zwei Jahren machte er den Sport zum Beruf und koordiniert als Referent den gesamten Leistungssport in MV für den Paralympischen Bereich. Auch für die Paralympics in Tokio in diesem Jahr hatten sich Tiede und seine Teamkollegen bereits qualifiziert. „Am Geburtstag meines Sohnes habe ich erfahren, dass Tokio um ein Jahr verschoben wird. Das wollte ich zuerst gar nicht wahrhaben“, sagt er. 
Doch Tiede nutzt die neu gewonnene Freiheit, um Zeit mit seinem Sohn zu verbringen und auf seiner blauen Simson zu fahren. Sein erstes Moped – auch eine Simson – hat er mit 15 selbst gebaut. „Das war mein Heiligtum“, sagt er. „Leider ist sie abgebrannt.“ Im März habe sich die Chance ergeben, eine Simson zu kaufen. „Da habe ich zugeschlagen!“ Wie schnell er fährt, kann er nicht sagen. „Ich sehe den Tacho ja nicht“, sagt er. Und: Auch wenn ihm das Fahren auf dem Acker Freude bereitet, gehört jedes Mal Überwindung dazu: „Mein Verstand sagt mir, ich sollte lieber absteigen, weil ich gerade eine körperliche Grenze überschreite. Die Kunst ist es, diese Grenze zu überwinden“, sagt Tiede. „Je öfter mir das gelingt, desto freier werde ich.“ 
Auch für die Zukunft hat er nur einen Wunsch: Wenn ich in zehn Jahren auch noch Moped fahren kann, weil die Augen es zulassen, dann bin ich schon glücklich“, sagt er.

© OZ/Thomas Mandt