Als am Abend des 1. August 1980 der Athleten-Bus vom Moskauer Leninstadion  ins olympische Dorf fuhr, saß darin ein gerade 21-Jähriger im blauen DDR-Trainingsanzug. Tags zuvor noch ein unbekannter Zweimeter-Schlaks, hatte Gerd Wessig vom SC Traktor Schwerin gerade Olympia-Gold im Hochsprung gewonnen. Mit Weltrekord – 2,36 m. 

Dass er eine Sensation vollbracht hatte, wusste der  gelernte Koch. Fassen aber konnte  es der gebürtige Goldberger längst noch nicht. „Und wie geht’s nun weiter?“, fragte er leise seinen  Trainer Bernd Jahn. „Wie soll’s weitergehen? Wenn du Mist machst, kriegst du  auch weiterhin was hinter die Löffel“, sah es der Erfolgscoach, der auch Zehnkämpfer Torsten Voss zu WM-Titel und Olympia-Silber führte, pragmatisch.

Noch ein Jahr vor Moskau war Wessig mit einer Bestleistung von 2,21 m weit weg von olympischen Träumen. Doch bei den DDR-Meisterschaften 1980 verbesserte der 2,01 m große und bis heute 86 Kilo schwere Modellathlet seinen Hausrekord auf 2,30 m und sprang in letzter Minute auf den Zug nach Moskau auf. So spät, dass seine Vita nur noch als loses Blatt in die DDR-Mannschaftsbroschüre Eingang fand. 

Im Portfolio der Spiele von Moskau galt der Männer-Hochsprung eigentlich als eines der Opfer des West-Boykotts. Zwar  war mit dem Polen Jacek Wszola  einer der beiden 2,35-m-Weltrekordler am Start. Aber mit  Dietmar Mögenburg  fehlte der Co-Rekordler ebenso wie dessen westdeutsche Landsleute Carlo Thränhardt und Carl Nagel (je 2,30)  sowie – verletzungsbedingt – der sowjetische Ex-Weltrekordler Wladimir Jaschtschenko  (2,34). „Sicher wäre der Wettkampf insgesamt anders verlaufen, wenn etwa Dietmar Mögenburg hätte starten können“, sagte Wessig später.  „Aber schlagen kann man nur die, die da sind.“

Am Ende war alle Unkerei ohnehin  belanglos. „Mein Ziel  war Platz sechs, aber es waren Sprünge wie aus einem Guss – und nach den 2,33 war ich plötzlich Olympiasieger. Dann hast du nur einmal die Chance, in einem solchen Wettkampf Weltrekord auflegen zu lassen“, schilderte der heutige Leichtathletik-Vize und Hochsprungtrainer des SSC seine Emotionen dieses Abends. 

Als im zweiten Angriff auf die 2,36 m die Latte tatsächlich liegen blieb, hatte er sich unsterblich gemacht. Olympiasieg mit Weltrekord –  das war zuvor und das ist  auch nach ihm keinem Hochspringer  gelungen. 

Noch heute hat mancher die TV-Bilder vor Augen, die den Schweriner unmittelbar nach seinem Rekordsprung ungläubig  lachend zeigen und wie er mit Freudentränen in den Augen seinen DDR-Kollegen Jörg Freimuth und Henry Lauterbach in die Arme fiel, die mit 2,31 m bzw. 2,29 m hinter Wszola (2,31 m) Bronze und Platz vier geholt hatten.

In den Monaten  nach seinem Erfolg, der, auch verletzungsbedingt, sein größter bleiben sollte, wurde der Olympiasieger  herumgereicht. Die DDR-Politik schmückte sich mit ihm wie mit ihren anderen 46 Moskauer Gold-Helden, er war in Betrieben und Schulen zu Gast. Die Wessig-Schnitte für 2,36 Mark, die das  Schweriner Weinhaus Uhle seinem Koch zu Ehren kreiert haben soll, ist jedoch eine Legende. „Die stand nie auf der Karte“, stellt Wessig klar. 

Mit dem 1. August verbindet sich für den Familienvater, dessen Ehefrau als Christine Schima mit 6,96 m eine der besten DDR-Weitspringerinnen war und dessen Kinder Daniel (32) als deutscher Auswahl-Handballer der Junioren sowie Tochter Lara (22) als Leichtathletin im SSC ebenfalls sportlich aktiv waren, noch ein weiteres wichtiges Ereignis. „Am 1. August 2000 habe ich mich selbstständig gemacht“, erinnert er sich. Seither stattet er kommunale Einrichtungen und Vereine mit Sport- und Freizeiteinrichtungen aus.

Vor zehn Jahren  war er noch einmal im Olympiastadion, mit einem Kumpel und ihren Ehefrauen. „Als wir mit unserem Schul-Russisch dem Milizionär am Tor erklärten, dass ich dort erfolgreich war, zückte der seinen riesigen Schlüsselbund und ließ uns überall rein.“ Im Stadion fand Gerd Wessig seinen Namen an einer Ehrentafel für alle Olympiasieger der Moskauer Spiele.

40 Jahre ist das  nun her, gefeiert wird aber nicht. „Ich finde, in diesem Jahr verbietet sich das. Auch 2020 wollten Sportler zu Olympia, mussten aber Corona Tribut zollen.“

Außerdem managt die Familie am Wochenende wegen des Uni-Wechsels der Tochter von Kiel nach Rostock einen Umzug. „Der Mietvertrag  beginnt wann? Am 1. August“, verrät Gerd: „Es gibt halt so Daten…“